Hallo Werner,
Danke für deine Antwort! Vor etwa zwei Jahren habe ich dich mit Fragen zu Schraubenberechnungen konfrontiert, die du alle souverän beantworten konntest. Und du hast erwähnt, dass du Maschinenbauer bist. Daher sehe ich dich als richtigen Ansprechpartner ;)
Zwei (sehr allgemein gehaltene) Fragen möchte ich noch einbringen:
1.) Das mit den Spannungstensoren ist mir geläufig. Zunächst ermittelt man ja aus den Koeffizienten des Spannungstensors die Hauptspannungen und dann daraus über Festigkeitshypothesen eine Vergleichsspannung, die dann mit Ergebnissen aus Zugversuchen o.ä. verglichen werden, etc...
Der einaxiale Zugversuch ist dadurch gekennzeichnet, dass alle Komponenten des Spannungstensors, bis auf den Eintrag "Sigma_11" Null sind, also auch die Schubspannungen. Wenn ich den Stab jedoch an einer beliebigen Stelle x (also über seine Länge) unter einem bestimmten Winkel schneide, kriege ich auch Schubspannungen. Damit kann ich mittlerweile anfreunden :D
Wenn ich aber den Spannungstensor aufstelle, trage ich nur für "Sigma_11" einen von Null verschiedenen Eintrag ein. Diese Spannung ist dann gleich der Hauptspannung (einachsiger Spannungszustand) und damit auch gleich der Vergleichsspannung. Für Festigkeitsnachweise rechnet man ja auch nur mit der Normalspannung (aufgeprägte Kraft/Fläche). Da interessiert sich also niemand für irgendwelche Schubspannungen, die im Bauteil existieren.
Das heißt ja, dass für die Auslegung die Hauptspannungen relevant sind (für den Zugstab also einfach externe Kraft/Fläche. Doch warum gerade die Hauptspannungen und nicht die Spannungen im 45 Grad gedrehten Koordinatensystem, wo ich Schub und Zug hätte? Wieso definiert das Hauptachsenkoordinatensystem den Grad der Mehrachsigkeit des Spannungszustands? Die Schubspannungen, die du in deiner Antwort erwähnt hast, bleiben so ja völlig unberücksichtigt.
2.) Mir fehlt eine vernünftige Vorstellung des Spannungsbegriffs, mit der ich die Ergebnisse beispielsweise einer FEM-Simulation plausibel bewerten kann. Mir ist klar, dass an Lagerungen Reaktionskräfte und folglich auch Spannungen entstehen. Kraftangriffspunkte oder lastfreie Oberflächen bleiben spannungsfrei. Solche Dinge sind mir geläufig. Auch die mathematischen Hintergründe der Strukturmechanik/FEM-Methode kenne ich gut, auf solche Dinge kommt es mir bei dieser Frage nicht an.
Was mir fehlt ist z. B. in Abhängigkeit einer beliebigen Belastung auf ein beliebig geformtes Bauteil an einem beliebigen Punkt innerhalb dessen eine rein qualitative Aussage über Spannungen zu treffen, also ob dort Spannungen vorhanden sind oder nicht. Das macht ja einen guten Entwickler aus. Bei Aussagen wie "es wird eine Schubspannung übertragen" tue ich mir zu verstehen was gemeint ist.
Mir würde ein Analogiemodell für den Spannungsbegriff weiterhelfen. Wenn ich einen Dämpfungszylinder betrachte, sagt man ja "Spannung wird dissipiert". Dissipation kenne ich als Umwandlung einer Energieform in Wärme durch Reibung. Kann man sich also Spannungen als Energie/Energiefluss vorstellen? Von der Dimension her natürlich Blödsinn, aber einfach nur zur Veranschaulichung. Abschließend möchte ich noch auf den Zugversuch eingehen. Hier fällt ja der Kraftaufwand zur weiteren Verlängerung nach Überschreiten der Fließgrenze im Vergleich zum linear elastischen Bereich ab, ergo auch die Spannung im Bauteil.
Vielleicht hast du ein paar Tipps für mich, wie man einen Spannungszustand "abschätzen" kann. Worauf ich hinaus will ist grundlegend zu verstehen was gemeint ist bei Aussagen wie:
-Es wird eine Spannungen übertragen
-Es kann keine Spannung übertragen werden (Sind diese dann Null? Was wäre ein einfaches Beispiel wo keine Spannung übertragen werden kann?
-Wieso sinken im plastischen Bereich die Spannungen im Bauteil? Was passiert da im Bauteil? (Die Theorie der Versetzungsbewegung kenne ich, jedoch nicht den Zusammenhang mit der Spannung)
Ich sage schon mal vielen Dank!
Viele Grüße
Simon