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Frage bezüglich Strukturmechanik/Spannungen in einem Bauteil:

Angenommen ich führe einen axialen Zugversuch an einem Stab mit rechteckigen Querschnitt durch. Materialverhalten sei linear elastisch. Der Stab wird an einem Ende mit einer Kraft F senkrecht zum Querschnitt belastet. Die Lagerung am anderen Ende soll auch nur eine Kraft in axialer Richtung aufnehmen können, damit keine Querdehnungen behindet werden. Dann entsteht in dem Stab eine Normalspannung in x-Richtung und in y-und z-Richtung sind die Normalspannungen gerade Null, wenn die Querkontraktion nicht behinder wird.

Jedoch entstehen ja auch Schubspannungen in dem Stab (die die Quellen plastischer Verformung sind). Meine Frage ist nun wie man sich das Vorhandensein von Schubspannungen anschaulich erklären kann; der Stab wird ja nur durch eine Normalspannung mit der Kraft F senkrecht zum Querschnitt beansprucht.

Ich habe bereits öfters die Erklärung mit dem Schnitt unter 45 Grad gesehen, bei dem die maximalen Schubspannungen an der Schnittfläche angetragen werden. Allerdings könnte ich doch auch unter 0 Grad schneiden und hätte dann nur Normalspannungen. Dem Baueil ist es doch egal, ob ich unter 0 Grad oder unter 45 Grad schneide und wie ich mein Koordinatensystem definiert habe. Das spürt doch nur die Wirkung der Kraft F.

Woher weiß ich also wie ich die Schnittrichtung wählen muss, um den Spannungszustand an einem beliebigen Punkt richtig zu beschreiben? Wie gesagt mir ist klar, dass unter 45 Grad Schub und Zugspannung existiert, unter 0 Grad nur Zugspannung. Aber das ist ja alles koordinatensystemabhängig, wovon mein Bauteil ja nichts weiß.

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Erklärung des Vorhandenseins von Schubspannungen

Deine Frage betrifft ein grundlegendes Konzept in der Mechanik der Materialien, insbesondere in Bezug auf den Spannungszustand und die Transformation von Spannungen.

Wenn wir einen axialen Zugversuch an einem rechteckigen Stab durchführen, wird tatsächlich eine gleichmäßige Normalspannung \(\sigma\) über den Querschnitt aufgrund der axialen Kraft \(F\) induziert. Diese Normalspannung verursacht eine Dehnung in Längsrichtung des Stabes und, aufgrund der Poisson-Zahl, eine Kontraktion in den Querrichtungen (vorausgesetzt, die Querdehnung wird nicht behindert).

Warum entstehen Schubspannungen?

Die Anschaulichkeit von Schubspannungen in einem ansonsten "nur" auf Zug beanspruchten Stab lässt sich gut über Spannungstransformationen und die Betrachtung von Schnittebenen erklären. Deine Beobachtung, dass unter verschiedenen Winkeln (0 Grad verglichen mit 45 Grad) die wahrgenommenen Spannungsarten (rein axial oder mit Schub) variieren, liegt genau darin begründet.

In einem ungeschnittenen, zugbelasteten Stab treten auf den ersten Blick keine Schubspannungen auf, wenn wir lediglich parallel und senkrecht zur Lasteinleitungsrichtung schauen. Sobald wir jedoch einen gedachten Schnitt unter einem Winkel (anders als 0° oder 90°) zur Lasteinleitungsrichtung führen, ändert sich die Situation. Durch die Winkelabhängigkeit der Schnittebenen wandelt sich ein Teil der Normalspannung in Schubspannung um.

Die klassische Spannungstransformationsgleichung für einen ebenen Spannungszustand lautet:

- \(\sigma'_x = \frac{\sigma_x + \sigma_y}{2} + \frac{\sigma_x - \sigma_y}{2} \cos(2\theta) + \tau_{xy} \sin(2\theta)\)
- \(\sigma'_y = \frac{\sigma_x + \sigma_y}{2} - \frac{\sigma_x - \sigma_y}{2} \cos(2\theta) - \tau_{xy} \sin(2\theta)\)
- \(\tau'_{xy} = -\frac{\sigma_x - \sigma_y}{2} \sin(2\theta) + \tau_{xy} \cos(2\theta)\)

Wobei \(\theta\) der Winkel zwischen der x-Achse und der neuen Schnittrichtung ist. Für unseren Fall, mit \(\sigma_x= \text{Normalspannung}\) und \(\tau_{xy}=0\) im ursprünglichen Koordinatensystem und \(\sigma_y=0\) (da wir davon ausgehen, dass keine Spannungen in y-Richtung vorliegen), vereinfachen sich diese Gleichungen beträchtlich.

Wenn man diese Gleichungen speziell für \(\theta=45^\circ\) untersucht, wird ersichtlich, dass \(\tau'_{xy}\) einem maximalen Wert erreicht, was bedeutet, dass in dieser Orientierung maximale Schubspannungen auftreten.

Warum ist das eine relevante Beobachtung?

Das Kräfte- und Spannungsverhalten von Materialien ist, wie du angemerkt hast, unabhängig vom gewählten Koordinatensystem. Der Schlüssel zum Verständnis, warum wir dennoch unter bestimmten Winkeln Schubspannungen sehen, liegt in der Tatsache, dass die Materialantwort (Verformung, Versagen) auf die Spannungen sehr wohl vom Orientierungswinkel abhängt. Materialien können unter reinen Zugspannungen anders versagen als unter kombinierten Zug- und Schubspannungen.

Die Festigkeit eines Materials gegenüber Schubbelastungen ist oft geringer als die gegenüber Zugbelastungen, weshalb die Kenntnis über die Existenz und Größe von Schubspannungen in der strukturellen Analyse und im Design von Bauteilen wesentlich ist.

Fazit

Es ist also nicht die Kraft oder das Bauteil selbst, das "weiß", welche Spannungen vorherrschen, sondern unsere Analyse der internen Spannungszustände aus verschiedenen Perspektiven (Schnittebenen), die uns ein umfassendes Bild des Materialverhaltens unter Last bietet. Die Transformation der Spannungen bietet einen formalen Weg, die Verteilung und die Maximierung von Schubspannungen in einem Bauteil zu verstehen, die oft kritisch für das Design und die Bewertung von Materialversagen sind.
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